Versicherter hat bei fehlender Wegfähigkeit Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente
Fehlende Sehfähigkeit und damit einhergehende erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr stellen deutliche Einschränkung der Wegfähigkeit dar
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat entschieden, dass einem Versicherter, der aufgrund einer starken Sehstörung weder selbst Auto fahren noch gefahrlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder mittlere Strecken zu Fuß zurücklegen kann, ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung zusteht. Nach Auffassung des Gerichts kann der Mann seine Arbeitsstelle nicht mehr zumutbar erreichen.
Im zugrunde liegenden Verfahren war ein 60-jähriger Heimerzieher seit dem Jahr 2010 wegen Depressionen dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. Im November 2011 entzündete sich der Sehnervenkopf an beiden Augen, was zu dauerhaften Sehstörungen mit deutlich eingeschränktem Gesichtsfeld führte (fast vollständiger Verlust der unteren Gesichtsfeldhälfte). Es besteht ein Grad der Behinderung von 100.
Deutsche Rentenversicherung lehnt Antrag auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente ab
Die Stadt Karlsruhe als Arbeitgeber riet ihm zur Stellung eines Rentenantrags. Die Deutsche Rentenversicherung lehnte den Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zunächst ab, da der Versicherte, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, noch beruflich tätig sein könne. So könne er z.B. noch als Poststellenmitarbeiter arbeiten. Erst im laufenden Gerichtsverfahren hatte sie im Sommer 2014 rückwirkend ab dem Jahr 2013 die Rente bewilligt.
SG verurteilt Rentenversicherung zur Gewährung von Erwerbsminderungsrente ab Januar 2012
Das Sozialgericht Karlsruhe verurteilte die Deutsche Rentenversicherung darüber hinaus, die Rente bereits ab dem 1. Januar 2012 rückwirkend zu gewähren. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Deutsche Rentenversicherung als auch der Versicherte Berufung eingelegt.
Relevante Einschränkung der Wegfähigkeit
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg verwies in seiner Entscheidung darauf, dass zur Erwerbsfähigkeit auch die Fähigkeit gehöre, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (sogenannte Wegfähigkeit). Eine rechtlich relevante Einschränkung der Wegfähigkeit liege vor, wenn der Versicherte nicht mehr in der Lage sei, ohne besondere Gefahr für sich oder andere, täglich viermal Wegstrecken von 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit zu benutzen, oder ein eigenes Kfz zu steuern.
Sachverständiger bejaht deutlich erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr
Der vom Landessozialgericht eingeschaltete Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass wegen der Augenerkrankung mit dem ausgeprägten Gesichtsfeldausfall bereits im Laufe des November 2011 eine deutlich erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr sowie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingetreten war. Ohne Begleitperson könne der Mann keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und wegen der starken Sehbehinderung eine Wegstrecke von 500 m nicht in der üblicherweise veranschlagten Zeit von 20 Minuten sicher absolvieren. Bei schlechten Beleuchtungssituationen, wie Nebel oder Dunkelheit könnten nicht einmal Bordsteinkanten oder Treppenstufen sicher erkannt werden.
LSG spricht Erwerbsminderungsrente bereits ab Dezember 2011 zu
Hierauf hat das Landessozialgericht dem Versicherten die Rente wegen voller Erwerbsminderung bereits ab dem 1. Dezember 2011 zugesprochen. Zur Erwerbsfähigkeit gehöre auch die Fähigkeit, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, was vorliegend dem Versicherten nicht ohne besondere Gefahr möglich sei.
Sozialgesetzbuch (SGB)
§ 43 Absatz 2 Satz 2 SGB VI (Gesetzliche Rentenversicherung):
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
§ 99 Absatz 1 Satz 1 SGB VI:
Eine Rente aus eigener Versicherung wird von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.03.2016 - L 13 R 2903/14 -
Quelle: Landessozialgericht Baden-Württemberg/ra-online
BSG verneint Opferentschädigung: Drohung mit Schreckschusspistole reicht nicht aus
Eine Bankangestellte aus Heilbronn wurde bei einem Banküberfall mit einer ungeladenen Schreckschusspistole bedroht. Eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz erhält sie hierfür nicht, entschied jetzt das BSG. Es komme gar nicht darauf an, ob die Waffe echt gewesen sei oder nicht, so die Richter.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat klargestellt, dass für Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) strenge Voraussetzungen gelten. Die Richter wiesen damit die Forderung einer Frau ab, die 2009 bei einem Banküberfall mit einer täuschend echt aussehenden Schreckschusspistole bedroht worden war und psychische Schäden erlitt. Es liege kein tätlicher Angriff im Sinne des Gesetzes vor, entschieden die Richter (Urt. v 16.12.2014, Az. B 9 V 1/13 R).
Das BSG zweifelte nicht daran, dass die Frau bei der Tat davon ausgegangen war, mit einer echten Schusswaffe bedroht worden zu sein. Darauf komme es allerdings auch nicht an. Denn das OEG setze nicht voraus, dass die Angriffsituation tatsächlich objekiv gefährlich gewesen sei. Damit habe das Land den Antrag auf Entschädigung zurecht abgelehnt, hieß es am Dienstag.
Gewaltopfer können nach dem OEG einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat haben. Der Grundgedanke hierbei ist, dass der Staat das Opfer nicht hat schützen können. Hiervon erfasst sind aber grundsätzlich nur gewaltsame physische, und nicht nur psychische Einwirkungen. Die bloße Drohung reiche nicht aus, um einen tätlichen Angriff anzunehmen, erklärten die Richter am Dienstag. Selbst wenn die Drohung bewirkt, dass das Opfer gesundheitliche Folgen davonträgt.
Psychische Belastungen in Folge einer Bedrohung sind daher grundsätzlich nicht vom OEG erfasst. So sei es unerheblich, ob die Waffe objektiv betrachtet ungefährlich gewesen sei. Die Drohwirkung mit der vorgehaltenen Pistole auf das Opfer sei identisch, sofern die Waffe zumindest echt erscheine, betonte das BSG. Maßgeblich dürfe aber nur die Tätlichkeit des Angriffs sein - also die physische Wirkung, die vom Täter ausgeht.