Deutschland darf EU-Bürgern Hartz IV verweigern

Worum geht es?

Ein wichtiger Grundpfeiler der Europäischen Verträge war schon immer die sogenannte "Arbeitnehmerfreizügigkeit" - also das Recht für EU-Bürger - in anderen EU-Staaten Arbeit zu suchen und zu finden. 2007 sind Rumänien und Bulgarien der EU beigetreten. Für die ersten sieben Jahre war geregelt worden, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Richtung Deutschland für diese beiden Länder noch nicht gilt.

Seit Anfang 2014 hat sich das geändert. Es gibt es keine Einschränkungen mehr. Zum Thema "Arbeitssuche" gehört auch die Folgefrage: Wovon leben, wenn es nicht klappt? Deutschland ist ein Sozialstaat, der verpflichtet ist, für seine Bürger ein Mindestmaß an finanzieller Sorge zu tragen. 

Mit den sogenannten Hartz-Reformen führte der Bundestag zum 01. Januar 2005 das Arbeitslosengeld II (umgangssprachlich Hartz IV) ein. Es soll die Grundsicherung für Arbeitssuchende gewährleisten. Aber haben nur deutsche Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf Hartz IV, oder gilt das als Folge der EU-Rechts auch für EU-Bürger z.B. aus Rumänien oder Bulgarien? Die Frage war in der Praxis umstritten.

Rechtliche Problematik:

Im Bundestag bestand die Sorge, dass schlecht ausgebildete Menschen nach Deutschland kommen, nur um Sozialleistungen wie Hartz IV zu beziehen. Darum fügte er 2007 eine Ausschlussklausel in das Sozialgesetzbuch ein. Danach wird Hartz IV nicht gewährt, wenn sich EU-Ausländer ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhalten. Diese Vorschrift ist der springende Punkt, denn genau an dieser Stelle prallen deutsches Recht und Europarecht aufeinander.

Viele Sozialgerichte im Land haben sich damit beschäftigt, ob der Ausschluss der Sozialleistungen gegen Europarecht verstößt. Dabei sind sie zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Deshalb ist die Thematik über das Bundessozialgericht beim zuständigen Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gelandet.

Was hat der EuGH-Generalanwalt zum aktuellen Fall vorgeschlagen?

In seinem Schlussantrag, einer Art Gutachten für das Gericht, hatte der Generalanwalt drei Fälle unterschieden:

Fall 1: Ein EU-Ausländer reist ein, will aber gar nicht arbeiten. Hier sei ein Ausschluss von den Sozialleistungen gerechtfertigt. So hatte es der EuGH schon entschieden.

Fall 2: Ein EU-Ausländer reist ein und sucht Arbeit, hat aber noch keine gefunden. Auch hier ist ein Ausschluss gerechtfertigt.

Fall 3: In dieser Konstellation geht es darum, dass der EU-Bürger nicht nur Arbeit gesucht hat. Ein EU-Ausländer reist ein und bleibt hier länger als drei Monate. Er arbeitet kurzzeitig, verliert aber seinen Job vor Ablauf eines Jahres. Dann verstoße es gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn der EU-Bürger automatisch von den Sozialleistungen wie Hartz IV ausgeschlossen werde. Zumindest müsste in diesen Fällen genau geprüft werden, ob der betreffende EU-Bürger eine tatsächliche Verbindung zum aufnehmenden Staat nachweisen könne. Die kurzzeitige Arbeit und die familiäre Situation seien dafür wichtige Kriterien.

Was hat der EuGH nun entschieden?

Der EuGH fährt in seinem Urteil eine restriktivere Linie als der Generalanwalt. Einig sind sich beide in Fall 2. Hier sei ein Ausschluss von Hartz IV gerechtfertigt.

Für EU-Bürger, die hier schon kurzzeitig gearbeitet haben (Fall 3), setzt der Gerichtshof aber enge Grenzen. Wer nach einem Kurzzeitjob arbeitslos geworden ist, behält seine Eigenschaft als "Erwerbstätiger" noch für sechs Monate. Für diese Zeit gibt es einen Anspruch auf Hartz IV. Danach nicht mehr. Es reicht die Prüfung durch die Behörden, ob der EU-Bürger kurzzeitig gearbeitet hat und aktuell Arbeit sucht. Dann gibt es Hartz IV für sechs Monate. Eine weitergehende individuelle Prüfung des Einzelfalles ist nicht erforderlich, sagt der Gerichtshof.

Kann es sein, dass Arbeit suchende EU-Bürger in Deutschland dann keinerlei staatliche Unterstützung bekommen?

Im Urteil geht es darum, was das EU-Recht fordert bzw. nicht fordert. Eine andere juristische "Baustelle" wäre aber die Lage nach deutschem Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Artikel 1 Grundgesetz (Schutz der Menschenwürde) grundsätzlich das Recht auf ein "Existenzminimum" ab. In der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz heißt es, dass sich die dort vorgesehenen Zahlungen nicht wesentlich von Hartz IV unterscheiden dürfen.

Ob sich dies auf die Situation von nach Arbeit suchenden EU-Bürgern übertragen lässt, ist eine spannende Folgefrage. Nachdem der EuGH die Vorlagefrage des Bundessozialgerichts nun beantwortet hat, geht der Fall dorthin zurück. Anschließend könnte die Klägerin vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Übrigens: sie hat inzwischen wieder Arbeit gefunden. Der Streit dreht sich um die Zahlung von Hartz IV für vergangene Monate.